Zukunft

Es ist ein Übel, dass alle denken, sie hätten keine Zeit...

Ich bringe das gerne mit meinem Lieblingsthema “Verkehr” in Zusammenhang.

So gut wie ALLE “Verbesserungsmaßnahmen” im Verkehr (Straßenausbau, Straßenneubau, U-Bahn, Eisenbahnbau” wird mit “Zeitersparnis” begründet. Da werden Milliarden und Abermilliarden Euros verbuddelt, damit sich X Personen Y Minuten am Tag an Reisezeit “sparen”. Das Produkt wird mit Z€/h multipliziert und man kommt über wenige Jahre auf Milliarden Euros an “Nutzen” für die Gesellschaft, welche die Ausgaben rechtfertigen sollen...

Wenn ich nun beobachte, wieviele solcher Bauten in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, und das mit den Personen und eingesparten Minuten multipliziere... frag ich mich, warum dann die Menschen immer weniger Zeit haben... und der Gedanke an die “Grauen Herren” aus Michael Endes “Momo” taucht auf – und das Gesicht von Christian Lindner.

Dann gehe ich in die Verkehrswissenschaften und höre, dass es da ein Phänomen gibt, welches “#Reisezeitkonstanz” benannt wurde. Das ist gut untersucht und empirisch verdammt gut rund um den Globus belegt.

Die Zeit, die Menschen am Tag im Verkehrssystem zubringen liegt bei ~1h. Unabhängig vom Verkehrssystem. In Städten wo die Menschen hauptsächlich zufuß gehen ist es genauso wie in Houston/Texas wo drölfzigspurige Autobahnen alles erschließen. Das ist in Brasilia das selbe wie in Wien oder Venedig.

Das was mit steigender #Geschwindigkeit im #Verkehrssystem sich verändert ist die Reiseweite. Ist das System schneller, fahren die Menschen weiter. Man sucht sich Ziele die weiter weg sind als bisher. Menschen ziehen in die Speckgürtel um die Städte, Geschäfte wandern aus den Ortskernen an den Rand der Siedlungen, Gerichte, Polizeistationen, Bankfilialen werden in den Dörfern geschlossen, dafür “konzentriert und effizienter” in Bezirkshauptstädten oder Oberzentren ausgebaut... Mit anderen Worten, wenn eine Relation “verbessert” wurde, weil die Straße (aber ja auch die Eisenbahn, Straßenbahn, U-Bahn¹ ) ausgebaut und beschleunigt wurde, dann passt sich im Lauf der kommenden Jahre die Infrastruktur so an, dass die Menschen nach kurzer Zeit wieder ihre Stunde am Tag benötigen um ihre statistisch nahezu konstanten 3,2 Wege/Tag zurückzulegen.

Es wird nur für alle teurer. Für ein Auto muss man mehrere Monate im Jahr arbeiten, um es sich leisten zu können. Straßen wollen gebaut und vor allem erhalten werden. Die Erhaltung kostet noch mehr als der Bau dereinst selbst. Das will über Steuern wieder eingenommen werden vom Staat. Also muss man mehr Steuern bezahlen und dafür arbeiten... Der Preis ist, dass man weitere Strecken zurücklegen muss, weil “daheim” alles “zugesperrt hat”...

Und dann wird klar, dass die Menschen trotz unfassbar teurer “Zeitsparinvestitionen” keine Zeit mehr haben, weil sie getrieben sind, all das Geld wieder zu verdienen, dass ihnen diese “Zeiteinsparung” in Wirklichkeit kostet...

Und da sind sie wieder, die “Grauen Herren” aus “Momo”.

¹ (Zu den Eisenbahnen/Straßenbahnen ist unbedingt zu erwähnen, dass die Erschließung entlang dieser Linie gut gesteuert werden kann. Die Siedlungen können so gestaltet und geplant werden, dass rund um die Haltestellen “Dörfer” entstehen, die wiederum fußläufig und per Rad gut erschlossen werden können. Bei den Straßen geht es immer in die Fläche und führt zu unfassbarer Flächenversiegelung und Siedlungen die nur mehr mit dem Auto zu erschließen sind... Allein daher sind ÖV-Linien zu bevorzugen.)

Man liest immer wieder vom #Verkehrsinfarkt, wenn gemeint ist, dass der Autoverkehr zum erliegen kommt. Jeder weiß was gemeint ist, und dass das nicht gut ist. So wie auch “alle” wissen, dass Stau ein Problem sei. Schließlich kommt man ja nicht mehr weiter, wenn man im Stau steht.

Aber eigentlich ist der Begriff falsch und er suggeriert auch eine falsche Handlungsanweisung.

Legen wir das einmal um auf den Bereich, wo der Begriff herkommt. Menschen haben einen Herzinfarkt, einen Lungeninfarkt,... Das Blut kommt bei einer Engstelle nicht mehr durch und das dahinterliegende Gewebe stirbt ab. Oft sogar der ganze Mensch als Folge.

Man spricht ja hier eindeutig vom Organ, welches betroffen ist. Niemand sagt, man habe einen #Blutinfarkt. Denn das ist absurd.

Wie kommts zu einem solchen Infarkt im Körper? Durch ungesunde Lebensweise werden die Gefäßwände beschädigt, der Körper versucht es zu reparieren und engt dadurch immer mehr das Gefäß ein. Und das Blut wird dickflüssiger. Die Blutbestandteile verklumpen und irgendwann ist es soweit, dass so ein Blutklumpen stecken bleibt.

Wiederum umgelegt auf das Verkehrsgeschehen kann man nun behaupten, die Behälter die zum Transport von Nährstoffen und Sauerstoff im Blut, oder zum Transport von Menschen und Gütern im Verkehr dienen, werden immer größer, transportieren aber deswegen nicht mehr sondern verursachen nur mehr Ressourcenverbrauch und beschädigen die Wege... Der SUV, der Sattelschlepper ist also der Thrombus des Verkehrs...

Wieder zurück in den Körper. Wie begegnet man so einem Infarkt, sofern man ihn überlebt oder vermeiden möchte? Nun... durch gesunde Lebensweise versucht man die verklumpten Blutbestandteile wieder in kleine Einheiten aufzulösen und die Blutgefäße in Schuss zu halten. Das würde dann im Verkehr bedeuten, man löst die zu großen Einheiten in viele kleine Einheiten, wie sie Räder oder Fußgehende sind, aufzulösen. Diese bekommen dann genau für sie ordentliche Verkehrswege, damit diese kleinsten Einheiten des Verkehrsgeschehens auch wirklich ohne Behinderungen durch die Organe einer Stadt fließen können.

Insoferne ist das Bild des “Verkehrs” welcher “wie Blut in die kleinsten Gassen fließen muss” schon sehr richtig. Die Reduzierung des “Verkehrs” auf den “Autoverkehr” allerdings der völlig falsche Ansatz. Der führt dann in der Folge nämlich – wie wir tagtäglich beobachten können – zum #Stadtinfarkt, #Dorfinfarkt, #Einzelhandelsinfarkt, #Nahversorgungsinfarkt, #Innenstadtinfarkt, #Vorstadtinfarkt

Neue Begriffe braucht das Land

Wie wäre es, wenn wir ab nun nicht mehr vom Verkehrsinfarkt reden, sondern nur mehr von den Betroffenen Organen des organisierten Zusammenlebens und genau die Begriffe vom Ende des letzten Absatzes verwenden? In Diskussionen, in Beiträgen in Blogs und Vlogs, in Postings auf Social Media...

Denn während ein Verkehrsinfarkt suggeriert, es müsse “der Verkehr” genauergenommen der “Autoverkehr” gerettet werden, suggeriert der #Stadtteilinfarkt dass der Stadtteil durch veränderte Verkehrsgewohnheiten gerettet werden kann und muss.

Nachtrag

Würde man einen Herzinfarkt mit den Mitteln der aktuellen Verkehrsplanung behandeln wollen, hätten wohl schon viele Menschen trotz falscher Ernährung und Bewegungsgewohnheit eine 3. oder gar 4. Aorta und vervielfachte Herzkranzgefäße ohne am Leben etwas zu verändern.

Hier gehts zur Diskussion:

https://lemmy.schuerz.at/post/3458